Gutmann Investment Mail Mai 2019 Wirtschaftskrisen als Geburtshelfer von Theorien Die Modern Monetary Theory als Thema im US-Wahlkampf Mit Wirtschaftskrisen ist es so: keiner mag sie und keiner braucht sie. Denn übrig bleiben Verluste und Scherben. Diese Scherben werden dann häufig – wie ein Puzzle – wieder zusammengesetzt. Doch manchmal werden die vorigen Gebilde nicht restauriert, sondern in neue Modelle gegossen. Die erste Weltwirtschaftskrise, ausgelöst durch den Börsencrash 1929, führte bei Ökonomen zum Überdenken der damals vorherrschenden Paradigmen und mündete in einem Theoriegebäude von John Maynard Keynes – auch Keynesianismus genannt. Eine der zentralen Thesen daraus ist, dass der Staat eine aktivere Rolle einnehmen, und insbesondere dann eingreifen soll, wenn die private Nachfrage nachlässt. Höhere Staatsausgaben sollen den Wirtschaftsmotor am Laufen halten. Die zweite Weltwirtschaftskrise, die 2007 einsetzte, hat ebenfalls eine Theorie nach sich gezogen und zwar die Modern Monetary Theory (MMT). Ob sie ebenso durchschlagend wird wie jene von Keynes, bleibt abzuwarten. Versuche, mit Gedankenexperimenten die Wirtschaftswelt neu zu definieren und festzulegen, gibt es zahlreiche. Doch die MMT wird schon im beginnenden US-Wahlkampf diskutiert, weshalb eine genauere Betrachtung wohl angebracht ist. Die Kernaussagen der Modern Monetary Theory Staaten mit eigener Währung können nicht Bankrott gehen: So ein zentrales Element des Denkansatzes. Sie seien in der Lage, ihre Defizite unbegrenzt auszuweiten. Dafür müssten sie nur ihre Geld-Druckmaschinen laufen lassen, um damit politisch opportune Ziele zu verfolgen. Als oberstes Ziel steht die Vollbeschäftigung. Der öffentliche Sektor setzt seine Ausgaben (und damit die Summe des gedruckten Geldes) im jeweils nötigen Ausmaß ein, um dieses Ziel zu erreichen. Das Geld kommt von der eigenen Notenbank, welche die erforderliche Menge dem Konto des Staates, beziehungsweise des Finanzministeriums, gutschreibt. Das Risiko der Inflation, das sich aus der Ausweitung der Geldmenge ergäbe, regelt man über Steuererhöhungen. Die Steuereinnahmen dienen dann nicht mehr der Finanzierung des Staates, sondern bloß der Inflationssteuerung. Mit anderen Worten pumpen sie Monetäres aus dem Privatsektor, um die Wirtschaft nicht zu überhitzen. In diesem Denkansatz ist die Inflation ohnehin eher ein Resultat von zu starker Preissetzungsmacht der Unternehmen, daher sind regulatorische Eingriffe der richtigere Zugang zu dieser Problemstellung. Um das Ziel der Vollbeschäftigung zu erreichen, werden öffentliche Stellen mit Jobgarantie angeboten. Das Ausmaß der Stellen passt sich dabei dem gegengleichen Konjunkturverlauf an – mehr Jobs in Abschwungphasen, weniger bei Hochkonjunktur. Der Austausch zwischen öffentlicher und privater Beschäftigung stellt laut Vertretern dieser Theorie kein Problem dar. Der Stellenwert der Notenbank wäre im Wirtschaftsgefüge deutlich geringer als derzeit. Die wesentlichste Aufgabe der Zentralbank ist das Bereitstellen von Geld für die öffentlichen Ausgaben. Eine Zinssteuerung ist obsolet, da der faire Leitzins ohnehin bei null liegt und ein darüberliegender Wert nur den Reichen zugutekommen würde. Die Fiskalpolitik steht in dieser Denkschule klar über der Geldpolitik. Anders als in der gängigen Lehrmeinung, bei der ein Gleichgewicht der Kräfte, bei gleichzeitiger Unabhängigkeit der Geldpolitik von staatlicher Einflussnahme, vorherrscht. Mögliche Implikationen Theorie-Befürworter fühlen sich insofern bestätigt, da auch derzeit eine geldpolitisch ausgelöste Ausweitung der Geldmenge stattfindet und diese nicht zu einer Inflation geführt hat. Prominente Beispiele sind die USA und Japan. Hier kann man kaum widersprechen, denn der geldpolitischen Expansion stand bislang keine nennenswerte Teuerung gegenüber. Aber gehen wir einen Schritt zurück und beleuchten die Kernparameter der These: Ein Staat, der selbst Geld druckt, kann nicht pleite gehen. Bis dahin klingt es ja plausibel, auf der nächsten Ebene wird es allerdings schon schwieriger. Denn eine weitere Prämisse der Theorie ist, das das Land über eine eigene Währung verfügt. Das gilt wohl für die USA und Japan, für die Länder der Eurozone trifft dies jedoch keinesfalls zu. Hier wird Fiskalpolitik, die im Sinne der MMT das zentrale Steuerungsorgan der Wirtschaft darstellt, auf Ebene der Einzelstaaten gemacht, aber das Geld wird durch die Europäische Zentralbank, als Teil der unabhängigen und supranationalen Europäischen Union, „hergestellt“. Aber nicht nur das. Es gibt eine Vielzahl von Ländern weltweit, deren Währung sich nicht frei bewegt, sondern an eine andere Währung oder an einen Währungskorb gebunden ist. Notenbanken dieser Länder sind daher nicht völlig unabhängig, sondern müssen ihre (Zins-)Politik auch an diesem Währungsziel ausrichten. Eine geldpolitische Einflussnahme ist im Sinne der MMT bestenfalls insofern toleriert, als die Zinsen möglichst niedrig gehalten werden, für den Rest sorgt die Fiskalpolitik. Selbst die theoretische Anwendbarkeit dieser These ist also bereits an dieser Stelle schwierig geworden. Sollte ein Staat tatsächlich mehr Geld in Umlauf bringen und jedem Staatsbürger im erwerbsfähigen Alter einen Job zur Verfügung stellen, erhöht sich die Geldmenge unmittelbar im Ausmaß der ausbezahlten Löhne. Das Argument, dass dies bereits jetzt durch die diversen quantitativen Lockerungen (quantitative easings) geschehe, ist nicht zulässig. Denn schließlich wird dadurch in erster Linie Kapital auf den Konten der Geschäftsbanken bei der Notenbank geschaffen. Erst durch die Kreditvergabe – und hier ist der Geldmengenmultiplikator die relevante Kenngröße – gelangt dieses Kapital eventuell in Umlauf oder wird vermehrt. Der Zusammenhang ist also ungleich indirekter. Wenn also auf direkte Art die Geldmenge erhöht wird, geschieht dasselbe wie auf einer einsamen Insel mit einem Gut und einem Zahlungsmittel. Wenn eine Kokosnuss bislang zehn Geldeinheiten gekostet hat und sich die Geldeinheiten plötzlich auf 20 erhöhen, dann kostet die Kokosnuss fortan auch 20 Geldeinheiten. Inflation wäre also die logische Folge dieser Politik. Aber dafür hat MMT auch eine Antwort parat: In diesem Fall werden die Steuern erhöht oder einzelne Unternehmen, die eine markt- und damit preisbeherrschende Stellung erreicht haben, regulatorisch in ihrer Tätigkeit eingeschränkt. So wird der Wirtschaft wieder jenes Kapital entzogen, das diese unglückselige Entwicklung ausgelöst hat. Aus dem Blickwinkel der politisch kreierten Arbeitsplätze wäre eines zu bedenken: Die neu geschaffenen Stellen stünden im Wettbewerb mit privaten Jobs. Daher müssten auch die Löhne auf einem vergleichbaren Niveau stehen. Zudem müsste jede geschaffene Stelle mitunter unbesetzt bleiben können, je nach Konjunkturlage. Andererseits sind die zentralen Organe dieser These gewählte Politiker. Es darf bezweifelt werden, dass Politiker den Wählern erklären würden, sie müssten die Steuern um 20 Prozent anheben, weil sie eine höhere Inflation erwarten. Die Politik, etwa jene der EZB, war und ist sicherlich nicht unumstritten. Aber genau das ist der Punkt: Schwierige, aber dennoch notwendige Entscheidungen, fallen einer unabhängigen Einrichtung einfacher als der Politik. Ein Gedankenexperiment im Plausibilitätstest Es überrascht nicht, dass diese Theorie zuletzt wieder an Popularität gewonnen hat. Angeheizt unter anderem auch durch die Notenbanken, die durch die Theorie ja an Einfluss verlieren sollen. Denn die Politik der Notenbanken hat auch dazu geführt, dass Vermögenspreise stark gestiegen sind. Der oft zitierte „kleine Sparer“ ist dabei vergleichsweise schlecht davongekommen. Und so wie nach der ersten Weltwirtschaftskrise der Keynesianismus entstand, der dem Staat eine zentralere Rolle einräumte, so entsteht nach der zweiten Weltwirtschaftskrise etwas Ähnliches. Der Tätigkeitsbereich der Notenbanken soll beschnitten werden und die staatlichen (Finanz-)Organe sollen mehr Gestaltungsraum bekommen. Abseits des Charmes solcher Theorien gibt es allerdings noch die gelebte Praxis. Und in dieser hat man Paralleles schon öfters gesehen. Die Folgen waren desaströs für die betroffenen Länder: Hyperinflation mit all ihren Begleiterscheinungen war die übliche – oder üble – Folge. Es hat sich als positiv für die langfristige Stabilität eines Landes erwiesen, wenn es voneinander unabhängige Organe gibt und insbesondere der Zugriff auf die Geldpresse vor politischem Opportunismus geschützt bleibt. Davon profitiert auch der Außenwert einer Währung. MMT hält es für verzichtbar, dass Notenbanken Gold zur Stützung ihrer Währung halten, denn sie können ja ohnehin unbegrenzt Geld drucken. Es ist zwar so, dass vor allem jene Länder die einen Zielwert zu einer anderen Währung einhalten wollen – oder müssen (wie etwa im EWS II, den europäischen Wechselkursmechanismus) – über ausreichend Deckung für ihre Währung verfügen müssen. Das trifft auf flexible Währungsregime allerdings nicht zu. Diese Volkswirtschaften haben jedoch eine glaubwürdige und etablierte Geldpolitik, die vertrauensvoll handelt. Vertrauen ist ein nicht zu unterschätzendes Gut in einem globalisierten System. Sollte das fehlen, würde es zwar die grundsätzlichen Überlegungen im Rahmen von MMT nicht durcheinanderbringen, aber deren Funktionieren in der Praxis deutlich erschweren. Eine damit einhergehende Kapitalflucht ausländischer Investoren hätte eine Abwertung der Währung und höhere Inflationsraten zur Folge. Da man dafür wohl kaum heimische Unternehmen zur Verantwortung ziehen kann, wie es eigentlich im Sinne der MMT ist, wären Steuererhöhungen die logische Folge, um die Inflation in den Griff zu bekommen. In diesem Fall wäre die Teuerung allerdings nicht notwendigerweise eine Begleiterscheinung der Hochkonjunktur, sondern könnte zu jedem Zeitpunkt im Zyklus auftreten. Es dürfte jedoch ungleich schwieriger sein, im Abschwung eine Steuererhöhung zu erklären, als zur konjunkturellen Spitze. Wie oben erwähnt, ist dieses Gedankenexperiment auf die Eurozone nicht übertragbar. Aber für uns Beobachter wird es spannend sein, wie diese zum Teil doch recht theoretischen Ansätze im US-Wahlkampf den Wählern schmackhaft gemacht werden.